Anneliese Kuhk - Texte

Nachruf des Tagesspiegel Berlin

 

Anneliese „Kuki“ Kuhk-Stone Geb. 1913

Wer sie Anneliese nannte, wusste nicht, wer sie war.
Sie hatte viele Männer und keine Hobbys

Die ersten acht Jahre ihres Lebens ist Kuki einsam. Doch die Bäume trösten sie. Kuki verbringt ihre Kindertage im Wald. Stämme umarmend, Blätter sammelnd. Vater Benno ist Förster, Herr über ein abgelegenes uckermärkisches Revier, ein ruhiger Mann mit einem gewaltigen Schnurrbart. Auch Mutter Bertha ist eine Stille. Die bodenständigen Eltern nennen ihre Tochter Anneliese. Aber anneliesig ist Kuki gar nicht. Der Name passt nicht zur „Elfe“, wie die Leute das Mädchen nennen, wenn sie es mal wieder durch den Wald irrlichtern sehen: schmal, mit dunklen, fedrig fliegenden Locken, riesigen schwarzen Augen unter hohen Brauen, deren Bögen die oberen Schwünge eines herzförmigen Gesichts zeichnen. Die Eltern wissen nicht, wie sie umgehen sollen mit diesem Kind, das so schön ist. Und das, wer weiß woher, so viele Talente hat, wo die Mutter doch gerade mal aus Wohlangezogenheit ein wenig auf dem Klavier klimpert. Die Eltern lassen Kuki einfach in Ruhe.

Entwickelt sich Individualismus aus Einsamkeit? Bei Kuki ist das so. Mit dem detailbegabten Blick der Malerin, der schon in den Kinderaugen liegt, konzentriert Kuki sich auf die kleinen Dinge. Steine, Rinde, tot Frösche. Stundenlang liegt sie auf dem Bauch, während der Waldboden grüne und braune Flecken in ihr Kleid färbt und starrt durch Grashalme – in dieser Perspektive riesig wie Säulen – und auf Käfer, die durchs Grün düsen wie Omnibusse. Kuhki beginnt, das Besondere im Banalen zu sehen und zu lieben. Eine bürgerliche Existenz kommt für dieses Kind nicht in Frage. Kuki wird Malerin und Bohemienne.

In Dahlem lässt sie sich nieder, absichtlich am Rande der großen Stadt, die beginnt, sich braun zu färben. Der rauschende Vergnügungswahn der dreißiger Jahre reißt Kuki mit – ihre Art des Widerstehens gegen die Nazis, die alles Besondere und Verrückte, alles, was Kuki mag, niederwalzen: Kuki feiert Nackt-Feten und Motto-Parties, hört brüllend lauten Jazz, trinkt zu viel Pernod und erwacht am Morgen danach mit Kopfschmerzen. Trotzig bleibt Kuki sich selbst treu, obwohl jene Welt, für die sie steht, einen Dreck gilt. Zu echtem Widerstand reicht der Trotz nicht. Da müsste sie ja zu viel Gewöhnliches tun. Das heiße, die Realität zu akzeptieren, Kuki wohnt lieber in ihren Träumen.

Viele Männer begleiteten Kuki in dieser von Ausschweifung gezeichneten Lebensphase: Zuerst ist da Walter, der Kameramann bei der Ufa. Ein schöner Mann. Es gibt ein Foto, auf dem sieht er aus wie Errol Flynn, nur blond. Lebensfroh, verrückt und untreu ist er. Kuki bekommt zwei Kinder von ihm, gibt sie zur Großmutter in die Försterei, ohne schlechtes Gewissen. Mutter will sie nicht sein. Dann Leslie, ein britischer Soldat. Auch Bonvivant. Und Hermes, der Geiger. Eine Episode.

Dann Michael Stone. Es ist im Sommer 1963, als der aus der Emigration heimkehrende jüdische Journalist bei Kuki als Untermieter einzieht. Am ersten Abend liest er ihr Gedichte vor. Am zweiten Abend liebt er sie. 30 Jahre werden sie zusammen sein, bis zu Michaels Tod. Dass er früher stirbt als sie, das wird Kuhki erschüttern, wo sie doch zehn Jahre älter ist als er. Nach Michels Tod wird Kuki schnell alt werden, ihre Schönheit wird verfallen, ihre Hände kräftige Werkzeuge, steif und runzelig. Kuki wird mit dem Malen aufhören. Doch das ist später. Zunächst richten sich Kuki und Michael ein in ihrer kleinen Wohnung an der Dernburgstrasse, wo Kuki im Wohnzimmer malt.

Je länger Kuki mit Michael zusammen ist, je mehr Sicherheit er ihr gibt, desto mehr kehrt sie wieder zurück zum stillen Naturell ihrer Kindheit. Die wilde Phase ist vorbei. Sechs Stunden am Tag arbeitet sie diszipliniert. Malt in kräftigen Farben panische Gesichter und skelettierte Menschen. „Ein Maler, der nicht beunruhigt, was will der überhaupt?“ pflegt sie zu fragen. Und hat Erfolg. Sie hat so viel zu tun, das Leben ist doch bald vorbei! Die Menschen sind für sie Objekte zum Malen: Es kann schon unangenehm sein, Kuki zu begegnen, wenn sie mit vorgestrecktem Kinn und ohne zu blinzeln das Gesicht mit den Augen abtastet. Dieser Schatten um die Augen, wie kriege ich den bloß hin, grübelt sie und merkt kaum, wenn der Gesprächspartner irritiert verstummt. Rausgehen ist Zeitverschendung. Immer, wenn Kuki Einkäufe erledigen muss, rast sie in kleinen, hektischen Schritten durch die Straßen. Bummeln ist mit Kuki unmöglich. Hobbys? Nein, die hat sie nicht, das ist etwas für Menschen, die ihr Leben in Freizeit und Beruf teilen. Kuki hat Leidenschaften: Michael und Malen. Vielleicht noch Gymnastik. Das macht sie jeden Morgen auf dem Balkon. Nackt. Brücke, Kerze, Arme dehnen. Dann wieder Malen und Michael.

Vor kurzem hat die Ziehtochter Kukis Wohnung ausgeräumt. Und festgestellt, dass die früher so zauberhafte Mischung aus Ererbtem, Gefundenem und Selbstgemachtem ohne Kuki aussieht wie Müll. Auf der Fensterbank liegen Dinge, die auch ein Kind gesammelt haben könnte: ein vertrockneter Frosch, Kiesel, ein Stück grünes Glas. Und dutzende Fotos von Bäumen.

Christine-Felice Röhrs